Digital resources in the Social Sciences and Humanities OpenEdition Our platforms OpenEdition Books OpenEdition Journals Hypotheses Calenda Libraries OpenEdition Freemium Follow us

Zettelkästen in Bibliotheken als Wissensgraphen sichern?

Marais, Bhvp, Detail, CC BY-SA 3.0 (In dieser Ansicht des Lesesaals der BHVP in Paris ist hinten im Vorraum der Balkon mit dem Zettelkasten zu sehen über den ich hier schreibe.)

Eine Erinnerung an den Zettelkasten der Historischen Stadtbibliothek von Paris (BHVP, Bibliothèque Historique de la Ville de Paris), verbunden mit der Frage wie solche Sammlungen digital erhalten und erschlossen werden können. Angeregt durch die Debatte zur Makulierung des Zettelkatalogs der Staatsbibliothek Berlin.

Im Sommer nach meinem Masterabschluss war ich finanziert von Arbeitslosengeld und einem Reisestipendium des Deutsch-Französischen Doktorandenkollegs in Paris, um für meine geplante Promotion zu recherchieren (2020 erschienen als Das Spektakel der Auktion). Vor Ort erhoffte ich mir Einblicke in historische Texte und Quellen zum Auktionsmarkt und besuchte dazu die Archive und Bibliotheken. Denn ich wollte von der üblichen Perspektive auf die Geschichte des Kunstmarkts, als Geschichte von Preisentwicklungen, Geschichte des Sammelns oder Geschichte der Händler*innen abweichen und seine Kulturgeschichte erzählen: wie sahen die Räume aus, wie wurden sie genutzt, was waren die Debatten, wie wurde der Wert der Kunst verstanden, was waren die Machtkämpfe, wer setzte sich durch, was war die Bedeutung des Kunstmarkts für die Künstler*innen? Die kulturgeschichtliche Perspektive war in der Dissertation dann die Grundlage, um juristische und ökonomische Entwicklungen nachzuvollziehen, d.h. mit den Debatten und Überlieferungen abzugleichen, zum Beispiel Preise und Netzwerke mit Theorie und Polemik. Andere Forscher wie Manuel Charpy hatten zu der Zeit zum Beispiel Nachlassauktionen für den gleichen Zeitraum in den Blick genommen, um Pariser Sozialgeschichte zu erzählen, auch die Bedeutung des Monopols der Auktionatoren war bekannt, nur die Konsequenzen für Kunstgeschichte noch nicht. Dass diese methodische Verknüpfung in einer FAZ-Rezension meiner veröffentlichten Dissertation hervorgehoben wurde, hat mich damals sehr gefreut.

Ich erinnere noch sehr prägnant wie ich in unsicherem Französisch mein Thema am Empfangsschalter der BHVP vorstellte, um einen Ausweis zu beantragen. Umso überraschter war ich, als mich die Mitarbeiterin dann direkt an die Zettelkästen schickte. Denn dort fand ich, zum Beispiel unter den Schlagworten Kunstmarkt oder Auktionsmarkt, vor allem Verweise auf Quellen, die die Bibliothek selbst gar nicht vorhielt. Es war eine Art anonymer Wissensgraph von historischen Texten, die ich sonst nirgends verzeichnet fand, als Medium selbst eine Art historisches Fenster in einen Forschungsstand, von wann die Zettel datierten weiß ich gar nicht. Für meine Dissertation war der Besuch des Zettelkastens der BHVP ein maßgebliche Orientierung im Material, genauso wie die topographischen und thematischen Mappen im Grafikkabinett der Französischen Nationalbibliothek.

Gerade wird diskutiert, den Zettelkatalog der Berliner Staatsbibliothek zu entsorgen und nur noch als Mikrofilm zu speichern. Ich verstehe den Platzbedarf und den Wunsch Ungenutztes abzuschaffen gut, auch den Zettelkasten der BHVP benutzte außer mir während des Tags den ich dort verbrachte niemand. Und ich kenne den Zettelkatalog der Stabi nicht und kann nicht sagen, ob er auch ähnlich beeindruckende Verweise beinhaltet. Nikolaus Bernau hat in der FAZ den Stabi-Zettelkatalog jedoch auch als analoge erhaltenswerte Wissensressource beschrieben und nennt ein paar Informationen, die seiner Beobachtung nach bisher nicht in die digitale Varianten übergehen: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/droht-der-berliner-staatsbibliothek-ein-kultureller-kahlschlag-110642746.html

Die Erinnerung an diesen speziellen Zettelkasten in Paris führt mich allgemein zu der Frage, wo noch überall solche alten vernetzten Wissensbestände existieren, und wie diese verschlagworteten Referenzen Teil unserer aktuellen Wissensgraphen werden können. Diese nun selbst historisch gewordenen Materialsammlungen werden glaube ich bisher nicht als solche digitalisiert (oder?), sondern in neue Formate übertragen, also Teil des digitalen Katalogs, sofern sie Findmittel zur eigenen Sammlung sind (mit dem von Nikolaus Bernau beschriebenen Informationsverlust). Beispiele für andere Ansätze kennenzulernen, würde mich sehr interessieren, denn ich bin nicht vom Fach was Bibliotheks-Zettelsysteme und ihre Digitalisierung angeht, denke also bei gelungener Digitalisierung eher an so etwas wie Niklas Luhmanns Zettelkasten im Netz: https://niklas-luhmann-archiv.de/bestand/zettelkasten/tutorial. Ein Beispiel aus Bibliotheken wäre die Uni-Bibliothek Greifswald mit dem elektronischen Zettelkatalog: https://ub.uni-greifswald.de/recherche/ub-greifswald/suchtipps/elektronischer-zettelkatalog/. Wenn Zettel digitalisiert werden, sehe ich aus meiner hier erzählten Erfahrung mit der analogen Variante gute Gründe sie als vernetzte Zusammenhänge zu erfassen und digital recherchierbar zu machen. Sie erscheinen mir als die analogen Vorläufer thematischer Dossiers und Bibliographien (etwa in Zotero-Gruppen), und auch von kuratierten Features in Online-Sammlungen, und könnten diesen im Netz begegnen, sich mit diesen vernetzen.


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Lukas Fuchsgruber (28. August 2025). Zettelkästen in Bibliotheken als Wissensgraphen sichern? Nullmuseum. Abgerufen am 14. November 2025 von https://doi.org/10.58079/14j4d


Das könnte dich auch interessieren …

Eine Antwort

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.